ACH SYLT

„Ah, wir sind da!“ hört man Heerscharen hungriger Urlauber andächtig sagen, wenn sie ihren Wallfahrtsort am Ende der Dünenstraße erreichen. Vor ihnen die Weite, die Wolken, der Wind und die Nordsee. Die meinen sie aber nicht. Ziel ihrer sehnsuchtsvollen Reise ist eine ehemals charmante, kleine Imbissbude, die vor sieben Jahren zu einem riesigen Lokal ausgebaut wurde, dessen gastronomische Infrastruktur an die eines Zoos oder Vergnügungsparks erinnert. Self-Service, grelle Beschilderungen, hektische Atmosphäre, Massenabfertigung.

 

In den 1970er Jahren begann die Mission des berühmten Fischbrötchen-Giganten mit dem roten Logo in List auf Sylt. Heute ist das Unternehmen Franchise – am Münchner Hauptbahnhof bekommt man den gleichen Matjes wie in Wenningstedt am Strand. Doch die Touristen, in mehrere Lagen Funktionskleidung gehüllt und auf der Suche nach einem authentischen Urlaubserlebnis, scheinen hier am Mekka ihres Geschmacks angelangt zu sein und tummeln sich unter ihresgleichen bei Matjesbrötchen, Chardonnay und 6 Beaufort.

 

Es zieht auf Sylt auch weiter südlich, die Insel ist ja nicht sehr groß, und so hockt man zwischen Rantum und Hörnum ebenfalls in stürmischen Strandbuden, die ihr Image Brigitte Bardot und Gunter Sachs verdanken und noch immer vom Glamour der späten 60er Jahre profitieren – eine instagramlose Zeit, in der Stars rar waren und entsprechend besonders. Man sinniert über die „Champagnerluft“, lässt sich vermeintlich nonchalant die eine oder andere Flasche Laurent Perrier zur Currywurst reichen und trägt, was Kampen an Luxus so hergibt. Und das ist beachtlich. 

 

Gerade einmal 600 Einwohner zählt der kleine Ort mit der teuersten Straße Deutschlands. Hier kostet der Quadratmeter um 30.000 Euro, gern auch mehr, das entspricht dem Niveau von Metropolen wie New York oder London. Bei dem Kurs wundert die High-Fashion-Parade rund um Louis Vuitton, Bottega Veneta, Hermès und Co. dann auch kaum noch.

 

Was aber hat Sylt, was benachbarte Orte nicht haben? Sind die weißen Sandstrände, das schroffe, jadegrüne Dünengras und die raue Nordsee nicht auf Amrum, Föhr und Röm genau so schön? Kann man in der Ruhe der autofreien Halligen oder der Weite der dänischen Küstenorte nicht gleichermaßen herrlich entspannen?

 

Praktisch jeden 90er-Jahre-Sommer habe ich auf Sylt verbracht. Jahre bevor der Immobilienwahnsinn sämtliche Eigentümer dazu brachte, ihre Nachkriegshäuser abreißen zu lassen um sie gegen identisch aussehende Neubauten auszutauschen und teuer an zahlungskräftige Kurgäste zu vermieten, bewohnten wir umfunktionierte Garagen. 23 funktionale Quadratmeter mit Schrankbett, Pantryküche und Nasszelle dienten uns als Ferienwohnung, in der wir eigentlich nur schliefen, denn die Tage verbrachten wir draußen. Wir radelten ums Rantumbecken, kämpften an der Hörnum Odde gegen den Sturm, wanderten durch die Braderuper Heide und hinaus ins Watt. Wir badeten bei Wind und Wetter in den Wenningstedter Wellen, ernährten uns von Nordseekrabben, Crêpes und Eis, und hörten den Möwen beim Kreischen zu. Wir liebten das Land, das Wattenmeer und die Nordsee, ihre Weite und den Geruch.

 

Ja, vielleicht ist es doch die Luft. Sie kurt Zivilisationskrankheiten wie Neurodermitis, Asthma und Fernweh. Sie schmeckt nach Jod und Reet, nach Schwefel und Algen, nach Austern und Apfelrosen. Sie ist immer in Bewegung. Rein, frisch, intensiv, klar, wild. Etwas ist magisch an diesem Ort, auch wenn sich einstige Friesenromantik nur noch folkloristisch-kommerziell zeigt, auch wenn absurde Preise für alles Mögliche aufgerufen werden und die schwindende Einwohnerzahl der gesamten Insel sozial und ökonomisch völlig unproportional ist zu den hunderttausenden Touristen, die jährlich auf die Insel strömen und etwas an ihrem Wesen zu nehmen scheinen wie das Meer, das Sylt langsam schrumpfen lässt.