STADT, LAND, FLUCHT

Letztens, die Luft war kühl und der Boden matschig, die Bäume trugen kein Laub und die Natur wartete graubraun auf den Frühling vor sich hin, waren mein Mann und ich auf eine Party eingeladen, die unweit vor den Toren Münchens stattfinden sollte. München ist ja nun wahrlich keine Metropole, und so bewegt man sich durch die Stadt und über ihre Grenzen hinaus recht komfortabel. Außer im Berufsverkehr auf der Landsberger Straße. Dort bewegt man sich gar nicht. Ich bin nicht sicher, wie viele Ampeln die Landsberger Straße hat, aus Hass habe ich sie nie gezählt. Es sind mindestens tausend.

 

Der Gastgeber war ein Geschäftskontakt, der wochentags zum späten Nachmittags-Apéro mit anschließendem Essen geladen hatte – wir standen also im Berufsverkehr auf der Landsberger Straße, für immer. Wir fahren ein modernes Auto, dessen Motor sich ausschaltet, sobald man anhält, und so fragte mein Mann in die angespannte Stille einer der endlosen roten Ampelphasen: „Warum ziehen wir eigentlich nicht aufs Land?“

 

Angesichts der winterlichen innerstädtischen Tristesse aus Schmutz, Blech und Grau, in der tausend rote Ampeln angestrengt hervorstachen, keine unberechtigte Frage. Ich sah ihn an mit einem Blick, mit dem man einen Hund schimpft, der einen Schuh zerkaut hat – hochgezogene Augenbrauen, aufgerissene Augen – und sagte vorwurfsvoll: „Weil wir Städter sind!“

 

Alle unsere Freunde ziehen aufs Land. Nein, nicht alle: nur die mit Kindern. Da wir selbst Kinder haben, sind wir hauptsächlich mit Leuten befreundet, die ebenfalls Kinder haben. Falls unsere Münchener Freunde mit Kindern nicht aufs Land ziehen, packt sie seit einiger Zeit aber trotzdem die Sehnsucht, die Stadt zu verlassen.

 

„Die Schulzens* suchen jetzt auch!“ sagte er und hupte fluchend einen überdimensionierten Oberklassewagen an, der uns den Weg zur nächsten roten Ampel abschnitt. Autofahren in München ist so ähnlich wie Autofahren in Rom oder Paris: Entweder man hat Nerven aus Stahl, oder man lässt es besser.

 

Es ist mit Trends ja immer so eine Sache. Wenn es alle machen (das bedeutet: alle, die man kennt, plus ein paar Influencer vielleicht), fällt es schwer, den Ignorieren-Modus einzuschalten und wie ein Schuster einfach bei seinen Leisten zu bleiben. Zumindest spinnt man den ein oder anderen Was-Wäre-Wenn-Gedanken, träumt mal rum oder hat plötzlich eine hübsche Vorstellung im Kopf.

 

Unsere Kinder sind im besten Komm-Wir-Ziehen-Aufs-Land-Alter, jenem Alter also, das jede gartenlose Wohnung nach ein paar Stunden zu eng werden lässt. In München laden die Mietpreise dazu ein, München zu verlassen. Grund? Garten? Utopisch. Unsere Wohnung verfügt über einen sehr kleinen Balkon, der zum Rauchen groß genug ist, aber nur für maximal drei kuschelnde Personen im Stehen, und kurz vor und nach dem Frost als Ort, an dem Bier gelagert wird, da unsere 83-Altbau-Quadratmeter natürlich keine Speisekammer vorweisen und eigentlich haben wir sowieso ein Zimmer zu wenig. Ein Arbeits- oder Gästezimmer oder zwei Zimmer für die Jungs, ach, das wäre schon schön. 

 

Eine Ewigkeit später zeigte uns das Navi endlich an, dass wir unser Ziel erreicht hatten. Ein Holzhaus im typischen Stil des Alpenlandes erwartete uns: Hölzerne Fensterläden, hölzerne Balkone, sowieso geht es in Oberbayern ja recht hölzern zu. Ein kleiner, verwunschener Garten mit Obstbäumen und Schaukel umgab das Chalet, das an Felder und Hügel grenzte, kein benachbartes Haus lag in Sicht, die Alpen konnte man quasi riechen. Ein friedlicher, schöner Ort. Drinnen war es erstaunlich hell und auf eine traditionsbewusste Weise modern. „So müsste es aussehen! Genau hier!“ Mein Mann war begeistert. Ich war beim Aussteigen mit dem Absatz in einem Haufen Matsch oder Kuhfladen gelandet, so genau ließ sich das nicht sagen, immer noch mit dem Entfernen des Schmutzes beschäftigt, und nicht so begeistert.

 

Als wir später gemächlich über die A8 zurück fuhren war es dunkel geworden. Ich hatte Wein getrunken, meine Schuhe waren sehr schmutzig. „Wozu leben wir denn überhaupt in der Stadt? Wir nutzen sie doch gar nicht!“ griff mein Mann das Thema wieder auf. Wir gehen nicht mehr regelmäßig ins nahegelegene Theater oder in unserem Viertel aus, seit unsere Kinder auf der Welt sind, sie haben sich als die reinsten Party-Punks erwiesen. Wir gehen ins Museum, wenn möglich, aber auch dafür bleibt im Trubel des Arbeits- und Familenalltags wenig Raum. Aber, und das ist ein entscheidender Punkt: Wir könnten, wenn wir wollten.

 

Ich liebe die Vorzüge der Stadt. Innerhalb von fünf Gehminuten kann ich einen Scan anfertigen lassen, ein Craftbier trinken, mich fachkundig zu halbautomatischen Waffen beraten lassen und ein französisches, italienisches, türkisches, bosnisches sowie drei indische Restaurants betreten. Dabei gehe ich an hundert Menschen mit hundert Hautfarben vorbei, hundert Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die ich nie wiedersehen werde.

 

Innerhalb von fünf Rad-Minuten kann ich meinen Gemüsehändler nach einem Köfte-Rezept fragen, an einem Capoeira-Kurs teilnehmen, meine Kaffeemaschine reparieren lassen, meinen Sohn zum Sport bringen, eine Wasserpfeife rauchen, Handyverträge bei drei verschiedenen Anbietern abschließen, zur Maniküre gehen und vom Festnetz aus günstig in die ganze Welt telefonieren. Das meiste davon mache ich nicht, aber ich KÖNNTE. Und das gefällt mir.

 

Magazine mit sehnsuchtsvollen Namen wie „Mein schöner Garten“ oder „Country Living“ oder „Mein schönes Land“ verkaufen romantische Ideen von prächtigen Gärten, in denen neben Blumen und Sträuchern vor allem Früchte wachsen, aus denen die besten Marmeladen Konfitüren der Welt entstehen in offenen, hypermodernen Landhaus-Küchen, in denen handbemalte venezianische Wandfliesen auf riesige makellose Spülbecken aus weißem Porzellan treffen und das Fell eines selbst erlegten Hirsches nonchalant über Interior-Ikonen wie dem E 15-Backenzahn liegt. Shaker-Feeling meets Toskana in Voralberg.

 

Die Kinder spielen draußen bis es dunkel wird, alles fühlt sich nach Bullerbü 2.0 an und der Mond scheint hell auf mein Haus am See, wenn alle satt und glücklich sind von der ganzen unfassbaren Marmelade Konfitüre.

 

Aber wer liest diese Magazine eigentlich? Ich glaube, es sind Leute, die in der Stadt leben. Zumindest dachte ich das, als wir zurück waren auf der Landsberger Straße, dieses Mal dem schwachen Funkeln der Innenstadt entgegen, und die roten Ampeln nicht weniger geworden waren, und die Ampelphasen auch nicht, nur der Verkehr hatte etwas nachgelassen.

 

*Name von der Redaktion geändert