Cathy Hummels lächelt mich von einer Litfaßsäule an, während ich auf den 62er zum Marienplatz warte. Sie wirbt für ein großes Trachtenhaus, das Dirndl steht ihr hervorragend, vermutlich hat sie es selbst entworfen. Vermutlich fährt sie nie mit dem 62er. Als ich einsteige, frage ich mich, zu welchem Anlass ich mir vor zwei Jahren ein Dirndl gekauft habe. Tatsächlich fallen mir einige Festivitäten ein, zu denen ich es trug: zwei Geburtstage, eine Taufe und zwei Wiesn, vier Mal war ich darin sehr betrunken. Weder komme ich aus Bayern, noch aus einem anderen Bundesland, in dem die Tracht Konjunktur hat (ein Oxymoron, nehme ich an) – ich habe zu diesem Kleidungsstück also keinen traditionellen oder familiären Bezug, fühle mich aber zu bestimmten Anlässen durchaus wohl darin.
Trachten gehören seit einiger Zeit zum Oktoberfest wie die Mass Bier, das Lebkuchenherz und die amerikanischen Touristinnen, die sich zwischen Tradition (Saufen in der Öffentlichkeit! Sex!) und Liberalität (Saufen in der Öffentlichkeit! Sex!) auf der Theresienwiese wie Alice durchs German Wunderland bewegen. Die Wiesn-Tracht ist eine modische Uniform, eine Kostümierung. Mehr oder weniger dezente Nuancen bei Dirndl und Lederhosn haben den Nutzen, sich zwischen hunderttausenden unter seines- und ihresgleichen wiederzufinden: Die Prominenz kippt Schampus in den entsprechenden Zelten, man trägt Maßanfertigung und dekadente Accessoires, während sich die Amerikanerinnen am Hauptbahnhof auf dem Weg zur Theresienwiese mit einer Halbliterdose Paulaner in der Hand (Saufen in der Öffentlichkeit!) die karnevalistisch-kurzen Polyesterversionen für 25 Euro kaufen (Sex!), aber wozu sonst betrinkt man sich schließlich kollektiv.
Wer jedoch meint, die Tracht huldige lediglich vergangenen Epochen oder habe allein dann eine Legitimität, wenn sie die Herkunft aus bestimmten Regionen anzeige, der irrt und degradiert die Mode. Zu ihrer Natur gehört es, dass sie sich fortwährend im Wandel befindet, dass sie gesellschaftliche Phänomene ebenso zu spiegeln vermag wie persönliche Vorlieben und dass sie ein Spiel ist, eine Möglichkeit. Mode ist toll, das Dirndl ist Mode.
DIE Tracht hat es sowieso noch nie gegeben, das Wort bedeutet, frei interpretiert, nichts anderes als Fashion. Das Dirndl, das heute auf der Wiesn getragen wird, hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert, als der Look um das silbergeschnürte Mieder von städtischen Bürgerinnen ins Leben gerufen wurde, die Urlaub auf dem Lande machten – die tatsächlich auf dem Land lebenden Arbeiterinnen kopierten es. Das erste ständeübergreifende Kleid war geboren.
Der heutige Dirndl- und Lederhosentrend wird gern mit der Sehnsucht nach Identität in einer globalisierten Welt erklärt. Das sehe ich ein, wenn man die Tracht zu einer Hochzeit im Allgäu trägt oder sonntags zu einer Taufe in der Alten Kapelle in Regensburg. Man sieht ja gut aus darin! Ob aber Stacey aus Oklahoma im Hacker-Festzelt auf der Suche nach sich selbst ist?
Mein Partner und ich diskutierten letztens, ob Tracht sexy sei. „Klar!“ sagte ich. „Mieder, Spitze, Satin sind im Grunde Dessous. Schöne Körperteile werden betont – bei Männern ja auch – und trotzdem kann man damit spielen. Ich kann auch eine schlichte Bluse tragen, die hochgeschlossen ist. Oder ein zugeknöpftes Jankerl. Du kannst die Lederhose auch weglassen.“ (den letzen Satz habe ich nicht gesagt). Er findet, das Trachtending sei überholt und dass die erotische Anziehungskraft von Mode sich verliere, wenn man sie zu oft gesehen habe. Ein guter Punkt! Möglich, dass in zwei Jahren alle wieder in Jeans und T-Shirt auf die Wiesn gehen. Das kann in Verbindung mit Bier ja auch ganz sexy sein.
Das Oktoberfest macht es mir trotz meiner Liebe zum Kostüm schwer es zu lieben. Ich mag Dirndl, Rausch, Exzess – alles super. Ich ärgere mich sogar über die Lokalpresse, wenn sie den Amerikanerinnen vorwirft, sie würden Traditionen mit Füßen treten in ihren quietschigen Looks. Welches Fundament hat diese Stil-Kritik? Zeugt sie nicht lediglich von modischem Desinteresse und einem Mangel an Aufgeschlossenheit und Liberalität (und Sex!)?
Doch während der Wiesn wird die Wiese zu einem Kessel, dem man nicht entkommt. Gefangen in einem dicken Brei aus Lautstärke, Menschen (so viele Menschen!), Farben und Gerüchen lässt sich der Zustand hedonistischer Reizüberflutung lediglich durch den Konsum der ein oder anderen Mass ertragen. Ich frage ich mich bis heute, aus welchem Stoff das so genannte Festbier eigentlich gebraut ist, es hat mir die beiden übelsten Kater meines Lebens beschert.
Während die Sinne also benebelt werden von Händelduft und Steckerlfisch-Rauch, von Zuckerwatte und Liebesäpfeln, von Achterbahnfahrten und Bier mit 13,5% Alkoholgehalt, von Wiesn-Hits und deiner Begleitung, die dir ins Ohr schreit, damit du sie verstehst; während die Hände kleben, der Magen flirrt, der Blick den Fokus löst und du endlich eins wirst mit dem Brei, der dir plötzlich ganz homogen erscheint, überblickt die Statue der Bavaria die Theresienwiese in dynamischer Pose, begleitet von einem Löwen, gehüllt in ein Bärenfell, ein Schwert in der linken, einen Eichenlaub-Kranz in der rechten Hand, Symbole von Kampf und Sieg. Sie gilt als bayerische Amazone voll Lebenskraft und Macht, die mit gehobenem Arm den Festwiese-Besucherinnen zu diktieren scheint, sie mögen sich dem Rausch ergeben, sich Lust und Ausgelassenheit unterwerfen. Eine drohende Göttin mit klarer Message: Wehe ihr lasst es nicht krachen, Leute! Ihr archaisches Outfit trüge ich gern zur nächsten Wiesn, das Schwert und den Löwen nehme ich auch. Ich fänd es irgendwie passender als mein nettes Dirndl.
Quellen
1. Simone Egger: Phänomen Wiesntracht. Identitätspraxen einer urbanen Gesellschaft. Dirndl und Lederhosen, München und das Oktoberfest, München 2008.
2. Alfons Kaiser: Mit aller Tracht, FAZ.net, 05.10.2013, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/dirndlfieber-mit-aller-tracht-12604090.html
3. Alfons Schweiggert: Wiesn Fieber. 200 Jahre Oktoberfest, Dachau 2010.