Es war einmal ein Wolf, der lebte in einem finsteren Tannenwald. Er war grau-braun und ziemlich groß und er hatte gelbe Augen, mit denen er gut sehen konnte und eine lange Nase, mit der er gut riechen konnte.
Bei den Tieren des Waldes war der Wolf aus zwei Gründen sehr beliebt: erstens, weil er so nett war. Wenn die Eichhörnchen ihre Eicheln vermissten, half er ihnen suchen. Wenn einer Ente ein Ei aus dem Nest gerollt war, schob er es zurück. Wenn ein Unwetter den Bau der Ameisen zerstört hatte, baute er ihn wieder auf, und so weiter. Wann immer ein Tier ein Problem hatte, musste es nur den Wolf um Hilfe bitten.
Zweitens fraß der Wolf die anderen Tiere nicht, dafür mochten sie ihn fast noch lieber. Er war Vegetarier und ernährte sich ausschließlich von den Blättern, Wurzeln und Beeren des Waldes. Es war ein friedliches und nettes Leben, das der Wolf und die Tiere gemeinsam dort führten.
Eines Tages aber tauchte im Wald das Rotbäckchen auf. Rotbäckchens Oma war kürzlich ans andere Ende des Waldes gezogen und nun kam es jeden Sonntag durch den Wald spaziert um seine Oma zu besuchen.
Der Wolf fühlte sich durch Rotbäckchens Ausflüge gestört. Die Art des Mädchens missfiel ihm, denn seine Nähe machte ihn schüchtern und verlegen und das war ihm ganz und gar nicht geheuer.
Eines Tages also, als Rotbäckchen wieder quer durch die Tannen lief – ein Lied pfeifend und einen Korb bei sich tragend, mit Brot und Äpfeln drin, für Oma – da lauerte der Wolf ihm bei einer Lichtung auf.
„Rotbäckchen!“ rief er ihm zu. „Was machst du in unserem Wald? Nimm den Weg außen rum, über die Straße und am Feld vorbei! Wir wollen dich hier nicht haben.“
Als sie ihn sah, wie er so plötzlich vor ihr stand, erschrak sie fürchterlich, denn er machte einen verwegenen Eindruck. Schnell rannte sie davon.
Am darauffolgenden Sonntag kam Rotbäckchen nicht in den Wald. Der Wolf freute sich, denn er dachte, er hätte es geschafft. Er dachte, er hätte seine Ordnung wieder hergestellt und das Mädchen vertrieben.
Doch eine Woche später war Rotbäckchen wieder da und sah so schön aus wie noch nie. Der Wolf erschrak fürchterlich.
Was sollte er nur tun? Offensichtlich hatte sie keine Angst vor ihm. Der Wolf verkleidete sich also flink als die Oma des Mädchens, um besser mit ihm sprechen zu können, ohne dass sich einer von beiden fürchten müsste. Er setzte eine Perücke auf und eine Brille, er schlüpfte in Omas Kleidung und zog eine Perlenkette an. In diesem Kostüm wartete er auf der Lichtung, bis Rotbäckchen kam.
„Oma? Bist du das?“ fragte Rotbäckchen, als es sich dem Wolf näherte. „Ja mein Kind, ich bin es! Der Wald ist kein Ort für ein junges Mädchen wie dich. Komm, lass uns die Straße nehmen!“ Der Wolf sprach mit verstellter Stimme und freute sich, dass sein Plan aufzugehen schien.
Gemeinsam gingen sie zur Straße. „Oma, wieso hast du denn so gelbe Augen? Geht es dir nicht gut?“ Rotbäckchen musterte den Wolf, dem es nun heiß und kalt den Rücken herunterlief.
Da standen sie auch schon vor dem Haus, in dem die echte Oma wohnte. Gerade trat sie vor die Tür, um die Blumen zu gießen. Sie sah das merkwürdige Paar und winkte freundlich.
Da nahm das Mädchen dem Wolf das Kostüm ab. Es befreite ihn von der Perücke, öffnete die Perlenkette und half ihm aus der falschen Kleidung.
„Du Dummerchen,“ sagte Rotbäckchen. „Glaubst du, ich bin blöd? Ich habe dich gleich erkannt. Ich mag dich. Aber ich mag dich lieber wenn du dich nicht verkleidest.“
Sie streichelte sein buschiges Fell. Da lächelte der Wolf verlegen. Von diesem Tag an trafen sie sich jeden Sonntag. Der Wolf half dem Mädchen beim Einkaufen und danach gingen sie die Oma besuchen. Er goss die Blumen und saß in ihrem Garten und dann aßen sie Torte und lachten darüber, wie dämlich er in Omas Kleidung ausgesehen hatte.